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Interview mit Ute Harland: Gebärdensprache

Wie lässt sich Gebärdensprache im Alltag umsetzen, welche Fehler können wir vermeiden und wie sieht ein guter Anfang aus, wenn wir uns über Gebärdensprache informieren möchten? Wir freuen uns, dass Ute Harland sich die Zeit genommen hat, sich fürs Texttreff-Magazin zum Thema Deutsche Gebärdensprache interviewen zu lassen.

Die Deutsche Gebärdensprache ist funktional, effizient und ausdrucksstark

Carola Heine: Liebe Ute, danke für deine Zeit und Mühen! Stell dich bitte unseren Leserinnen und Lesern kurz vor.

Ute Harland: Beruflich bin ich als „textgewandt“ in der Finanzkommunikation tätig. Das heißt, ich konzipiere, schreibe und lektoriere zum Beispiel Geschäftsberichte für börsennotierte Unternehmen. Zur Finanzkommunikation gehören aber auch alle anderen Veröffentlichungen, mit denen Unternehmen sich an ihre „Stakeholder“ wenden.

Aber heute bin ich in einer anderen Rolle hier und möchte über ein Thema reden, das mich vor allem persönlich sehr beschäftigt: die Deutsche Gebärdensprache. Das ist eine ganz tolle Sprache, sie ist beeindruckend funktional und effizient, gleichzeitig ausdrucksstark und emotional! Leider ist sie bis heute nicht wirklich gesellschaftlich anerkannt, und ihre Verwender*innen erleben immer wieder Diskriminierung. Das macht mich sehr betroffen.

Du bist Textine und brennst für ein Kommunikations- oder (im weitesten Sinne) Textberufsthema? Dann freuen wir uns über deinen wertvollen Input, der deinen Themen hoffentlich viel Sichtbarkeit bringt. Schreib einfach an Carola Heine mit deinem Vorschlag.

»Ich wünsche mir sehr, dass die Gebärdensprache mehr Wertschätzung bekommt«

Carola Heine: Was würdest du dir für die Gebärdensprache wünschen? Wie können wir es im Alltag umsetzen?

Ute Harland: Ich wünsche mir sehr, dass die Gebärdensprache mehr Wertschätzung bekommt – einfach in unserer Gesellschaft dabei ist und selbstverständlich „mitgedacht“ wird. Dazu müsste sie vor allem erstmal viel präsenter sein!

Zum Beispiel sollten Gebärdensprachverdolmetschungen auch im linearen Fernsehen regelmäßig vorkommen, damit sie als „normal“ empfunden werden. Stattdessen sind sie (wenn es sie überhaupt gibt) meistens irgendwo in den Mediatheken versteckt und gar nicht so leicht zu finden. Deutsche Gebärdensprache sollte an allgemeinbildenden Schulen als Fremdsprachenfach unterrichtet werden, damit alle Schüler*innen sie lernen können, wenn sie wollen. Sie ist ja auch tatsächlich eine Fremdsprache im eigenen Land. Aktuell gibt es nur ganz vereinzelte Pilotprojekte, aber ein vollwertiger Gebärdensprachunterricht ist bisher an deutschen Schulen nicht möglich!

Ansonsten sollte die Gebärdensprache natürlich regelmäßig bei verschiedensten Gelegenheiten sichtbar sein: durch Gebärdensprachdolmetschende bei öffentlichen Veranstaltungen, Gebärdensprachvideos im Internet, bilinguale Freizeitveranstaltungen …

Einige Vorurteile, die wir unbedingt ausräumen sollten

Carola Heine: Hast du einen Tipp, welche typischen Fehler wir auf keinen Fall machen sollten?

Ute Harland: Ja! Es gibt einige weitverbreitete Vorurteile, die wir unbedingt ausräumen sollten:

  • Die Gebärdensprache ist kein medizinisches Hilfsmittel, das sich irgendjemand irgendwann mal ausgedacht und künstlich zusammengestellt hat. Sie ist im Laufe der Zeit natürlich gewachsen und entwickelt sich immer weiter, genau wie gesprochene Sprachen. Es gibt sogar Vermutungen, dass die Menschen schon lange vor gesprochenen Sprachen Gebärdensprachen verwendet haben.
  • Die Gebärdensprache ist deshalb auch nicht international. In jedem Land hat sich eine eigene Gebärdensprache entwickelt. In Deutschland ist das zum Beispiel die Deutsche Gebärdensprache (DGS), in den USA die American Sign Language (ASL). Es gibt auch regionale Dialekte, genau wie bei den gesprochenen Sprachen.
  • Mit der Gebärdensprache kann man alles ausdrücken, was man auch in gesprochenen Sprachen ausdrücken kann. Das Thema kann beliebig abstrakt sein, ohne alle inhaltlichen Einschränkungen. Natürlich gibt es auch vielfältige künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten in Gebärdensprache und auch eine ganz eigene Kunstform namens „Visual Vernacular“.
  • Alle Menschen können gebärden. Links- und Rechtshänder*innen führen die Gebärden üblicherweise spiegelverkehrt aus, man kann auch einhändig gebärden. Kleine Kinder erwerben die Gebärdensprache ähnlich wie eine gesprochene Sprache, wenn sie ihnen in vergleichbarer Form und in vollem Umfang angeboten wird.

Die Erwartungshaltung, Lippen lesen zu sollen, grenzt Gehörlose aus

Carola Heine: Was ärgert dich, weil es unnötige Barrieren schafft?

Ute Harland: Mich ärgert es, wenn erwartet wird, dass gebärdensprachliche Menschen auf ihre Sprache verzichten und stattdessen „Lippen lesen“ sollen. Das ist in meinen Augen nur ein Ausdruck der Bequemlichkeit Hörender. Sie sind nicht bereit, in der Kommunikation Rücksicht zu nehmen und sich auf eine andere Form der Kommunikation einzustellen. Stattdessen erwarten sie einfach, dass Gehörlose sich an sie anpassen – egal ob das überhaupt geht oder nicht.

Vollständig per „Lippen lesen“ zu kommunizieren, ist nämlich gar nicht möglich. Viel zu viele Laute sind gar nicht an den Lippen zu erkennen oder zu unterscheiden, im Deutschen ganz besonders. Das „Absehen“ bleibt deshalb immer lückenhaft und ist mit viel Raten und ständigen Missverständnissen verbunden. Letztendlich grenzt diese Erwartungshaltung die Gehörlosen gerade aus der hörenden Mehrheitsgesellschaft aus.

Es ist leider auch eine lange Tradition der deutschen Gehörlosenpädagogik, von den Schüler*innen zu erwarten, dass sie rein lautsprachlich kommunizieren. Sie müssen deshalb über Jahre hinweg sehr mühsam und leidvoll Artikulation trainieren – auf Kosten der sonstigen schulischen Bildung. Das ist an vielen Gehörlosenschulen bis heute so!

Untertitel sind immerhin besser als nichts

Carola Heine: Wie kann man Gebärdensprache aufschreiben?

Ute Harland: Es gibt verschiedene Versuche, eine Gebärdenschrift zu entwickeln. Dabei handelt es sich aber eher um wissenschaftliche Projekte, die nicht für den Alltag geeignet sind. Die Schwierigkeit daran ist, dass sich die Gebärdensprache nicht aus Buchstaben zusammensetzt. Stattdessen besteht jede Gebärde aus verschiedenen Elementen, die alle gleichzeitig geschehen und parallel notiert werden müssen. Eine Gebärdenschrift ist also zwangsläufig viel komplexer als eine herkömmliche Schriftsprache. Es gibt zwar ein Gebärdenalphabet – das dient aber vor allem dazu, unbekannte Namen und Begriffe zu buchstabieren, und ist keine Liste der kleinsten Bestandteile einer Schriftsprache.

Gebärdensprachliche Menschen nutzen daher die Schriftsprache ihres Landes. Man muss jedoch bedenken, dass das für sie eine Fremdsprache ist, mit einem ganz anderen Vokabular und ganz anderer Grammatik als ihre Gebärdensprache. Sie erwerben sie nicht muttersprachlich, sondern müssen sie erst in der Schule erlernen. Vielen gelingt das nicht vollständig, vor allem wenn die Beschulung in erster Linie auf Hören und Sprechen ausgerichtet ist.

Untertitel als Mittel der Barrierefreiheit sind deshalb zwar deutlich besser als gar nichts. Sie stellen für viele gebärdensprachliche Menschen aber trotzdem keinen barrierefreien Zugang zu Sprache dar.

Was können wir alle tun, damit Barrierefreiheit besser umgesetzt wird?

Carola Heine: Wie geht denn Barrierefreiheit besser?

Ute Harland: Am besten ist es, einfach durchgängig Gebärdensprache anzubieten. Auf manchen Webseiten ergänzen zum Beispiel Videos in Gebärdensprache die geschriebenen Informationen. Allerdings kommt es bisher nur sehr selten vor, dass solche Videos die vollständigen Informationen enthalten. Oft sind sie nur eine Art Wegweiser durch die Unterseiten, aber bringen gar nicht die eigentlichen Informationen.

Der Ansatz ist aber genau richtig: Informationen in mehreren Sprachen anzubieten. Untertitel für diejenigen mit guter Schriftsprachkompetenz. Gebärdensprache für diejenigen mit guter Gebärdensprachkompetenz. Für einfache Sprache und Leichte Sprache gibt es in den gleichen Situationen auch meistens eine Zielgruppe. Und die verschiedenen Sprachen sollten aktiv angeboten werden und nicht erst auf Nachfrage (und meistens nach langen Verhandlungen)!

Man kann Barrierefreiheit ja auch mal umgekehrt denken: Wie kommunizieren lautsprachliche Menschen, wenn sie weit auseinander stehen? Bei einem starken Unwetter oder bei lauter Musik? Durch Fensterscheiben hindurch? Mit Gebärdensprache ist das alles kein Problem. 

Fazit


Carola Heine: Wo ist ein guter Anfang, wenn jemand mehr über Gebärdensprache erfahren UND sie lernen will (das sind ja zwei verschiedene Dinge)?

Ute Harland: Offenheit und Wertschätzung sind wichtige Voraussetzungen. Leider gibt es in Deutschland zu wenig professionelle Angebote, wo man Gebärdensprache lernen kann, fast ausschließlich im Rahmen der Erwachsenenbildung (weil sie ja an Schulen nicht gelehrt wird). Wer nicht in erreichbarer Nähe einer Gebärdensprachschule wohnt oder lieber in Distanz lernen möchte, kann mittlerweile auch auf Onlineangebote zurückgreifen.

Wichtig ist, darauf zu achten, dass „echte“ Gebärdensprache gelehrt wird und nicht nur eine Sammlung einzelner Gebärden. Und dann ist es wie mit jeder Fremdsprache: Ohne Lernen und Üben geht es nicht. Dafür wird man aber mit einer ganz neuen, faszinierenden Sicht auf die Welt belohnt (der visuellen) und erhält viele neue Möglichkeiten zur Kommunikation.

Carola Heine: Vielen Dank. Mit deinen Tipps sollte der Einstieg nun besser gelingen!

Über die Autorin


Ute Harland

Intelligente Öffentlichkeitsarbeit für den Kapitalmarkt: Von A wie Aktionärsbrief bis Z wie Zwischenbericht – ansprechende Texte für Ihre Finanzkommunikation

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